www.jochenolbrich.homepage.t-online.de

 

Tugenden

(1. Fassung Februar 2001)

Gliederung

1. Begriffliche Bestimmung
2. Einteilung der Tugenden
3. Widersprüchlichkeit dieser Einteilung
4. Offene Fragen
5. Einteilung der Tugenden nach ihrem Bezug.
6. Mängel der neuen Einteilung
7.
Neue Einteilung und Strukturierung der Tugenden

 

Ausführungen

1. Begriffliche Bestimmung

Unter Tugend versteht man allgemein die Bereitschaft zur sittlichen Gesinnung und zum sittlichen Handeln.

Der Begriff der Tugend geht auf Platon zurück. Er unterschied Kardinaltugenden (z.B. Gerechtigkeit als Ergebnis der drei Tugenden: Weißheit, Tapferkeit und Besonnenheit. Zu den Kardinaltugenden gehören außerdem die beiden Tugenden Mäßigkeit und Großzügigkeit.

Bei Aristoteles wurden dianoetische Tugenden* und ethische Tugenden unterschieden.
(* Lehre vom Denken besonders vom Urteil)

Das Christentum (Thomas von Aquin) fügte zu diesen philosophischen Tugenden die theologischen Tugenden hinzu. (z.B. Glaube, Liebe und Hoffnung)

Im Mittelalter bezeichnet der Begriff Tugend die einzelne und die umfassenden Tauglichkeit.

(Quelle: In Anlehnung an „Das Neue Duden Lexikon“ in 10 Bänden, Dudenverlag
         Mannheim/Wien/Zürich, aktualisierte Neuauflage 1989; S. 3869)

 

2. Einteilung der Tugenden

Der gesamte Kanon der Tugenden wurde von Oskar Lafontaine in zwei Kategorien von Tugenden eingeteilt.

Oskar Lafontaine teilte die Tugenden in Primärtugenden und in Sekundärtugenden ein.
Die Sekundärtugenden wurden definiert als Tugenden, mit denen man auch ein KZ leiten könne.

Zu den Sekundärtugenden gehören:

         Disziplin
         Fleiß
         Treue
         Ehrlichkeit
         Ausdauer
         Pflichtbewusstsein
         Verantwortungsbewusstsein
         Sorgfalt

Die Primärtugenden waren nach Lafontaine die besseren, wertvolleren Tugenden des Menschen.

Zu den Primärtugenden gehören:

         Hilfsbereitschaft
         Nächstenliebe
         Solidarität
         Respekt vor anderen
         Toleranz
         Geduld

Damit hatte Lafontaine eine Diskussion über Tugenden und über Werte an sich losgetreten. Diese Diskussion dauerte Jahre und strahlte auf viele Bereiche aus.

1. Es begann eine Diskussion über die multikulturelle Gesellschaft; oft unter dem Stichwort
         Multikulti“. Die Begriffsprägung oder diese Wortschöpfung geht auf Heiner Geißler in einem Interview mit der „Zeit“ vom 28.Oktober 1988 zurück.
         (Siehe auch Anlage 10: „Erfinder und Gegner der multikulturellen Gesellschaft“ Tagesspiegel vom 17.Juni 1998)
         Dieser Begriff spielt bei der Auseinandersetzung um kulturelle Identität eine große Rolle.
         Multikulti wird von einigen als erstrebenswertes Ziel definiert und propag(and)iert.
         Viele (z.B. der ehemalige Studentenführer Daniel Cohn-Bendit) reden sogar von einem Kampfbegriff.
         Andere haben diesen Begriff nahezu gierig aufgenommen. Es vergeht kaum ein Tag an dem der Begriff nicht irgendwo in den Medien (Radio, Fernsehen, Zeitungen)
         auftaucht.


2. In letzter Zeit ist eine Diskussion um den Begriff und die Inhalte von „Leitkultur“ entbrannt.
         Ursprünglich hieß der Begriff die „Deutsche Leitkultur“ , dann „Leitkultur in Deutschland“ und schließlich nur noch „Leitkultur“.

3. Schließlich wurden alle Werte in Frage gestellt und auf den Prüfstand gestellt
         Das schwappte auch und natürlich gerade auf den Bereich der Erziehung und Bildung über.
         Es entstand z.B. eine Diskussion über sogenannte Kopfnoten auf Zeugnissen.
         Darunter verstand man die Frage, ob man Schulnoten für Betragen, Fleiß und Sorgfalt oben auf dem Zeugnis vermerken sollte oder nicht.
         (Allein schon diese Wortschöpfung „ Kopfnoten“ ist ein - zumindest für mich schreckliches Wort)

 

3. Widersprüchlichkeit dieser Einteilung:

Auch der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt ging in einem Artikel im Tagespiegel zur Jahreswende 2000/2001 unter anderen auch auf die Frage der Tugenden ein, die ein Politiker haben müsse. Der Artikel hatte die Überschrift „Er soll auch ein anständiger Mensch sein“

In dem o.a. Artikel nimmt Helmut Schmidt auch zu der Einteilung der Tugenden Stellung. Ich zitiere aus dem Artikel die letzen beiden Sätze:

         „Was der Mann (gemeint ist Oskar Lafontaine) Sekundärtugenden zu nennen gelernt hat, das heißt normalerweise bürgerliche Tugenden.
 
        Wenn einer diese Tugenden mit dem Wort Sekundärtugenden lächerlich macht, so fehlt ihm selbst die Kardinaltugend der Klugheit – und außerdem
 
        der Anstand.“
         (Quelle: Tsp. vom 31.12.2000/01.01.2001)


Man kann nun – so finde ich - eine hoch interessante und im Ergebnis sehr aufschlussreiche Überlegung anstellen und auch darstellen. Man kann sowohl die Begriffe der primären als auch der sekundären Tugenden in ihr Gegenteil umkehren. Das gelingt häufig, indem man die Vorsilbe „un-“ verwendet. Als Darstellungsmethode erscheint mir die Gegenüberstellung geeignet.

Primärtugenden
                    
(gut und wertvoll)                     (Negation der guten Tugenden)

                     Hilfsbereitschaft                   keine Hilfsbereitschaft
                     Nächstenliebe                       purer Egoist
                     Solidarität                              Unsolidarisches Verhalten

                     Respekt vor anderen            Respektloses Verhalten
                     Toleranz                                 Intoleranz
                     Geduld                                   Ungeduld


Die selbe Methode wende ich nun auch bei den Sekundärtugenden an.

Sekundärtugenden

         (Das sind die KZ-Tugenden.    (Negation dieser Sekundärtugenden)
         (Sie sind negativ besetzt, weil missbräuchlich)

                     Disziplin                                             keine Disziplin/Disziplinlosigkeit
                     Fleiß                                                  Faulheit
                     Treue                                                 Untreue
                     Ehrlichkeit                                         der Lüge verhaftet
                     Ausdauer                                           keine Ausdauer
                     Pflichtbewusstsein                            kein Pflichtbewusstsein
                     Verantwortungsbewusstsein            kein Verantwortungsbewusstsein (oder verantwortungslos)
                     Sorgfalt                                              Schlamperei

 Die Unterscheidung in primäre und sekundäre Tugenden schadet der Bildung!

 

4. Offene Fragen

 

Nun gibt es in der deutschen Sprache zwei Regeln, die sich mit der Verneinung beschäftigen:

Die erste Regel besagt, dass die Verneinung von etwas Negativem etwas Positives darstellt (und umgekehrt)
Die zweite Regel besagt, dass die doppelte Verneinung ebenfalls etwas Positives beinhaltet.

Exerzieren wir das mal an einem Beispiel durch:
Die Negation der Treue ist die Untreue.
Da die Treue eine Tugend ist, mit der man ein KZ leiten kann (und damit eine negative besetzte Tugend ist), müsste nach den Regeln der deutschen Sprache das Gegenteil davon eine positive Bedeutung haben.

Nun kann sich Herr Lafontaine auch nicht über die Regeln der deutschen Sprache hinwegsetzen. Wenn man einfach mal unterstellt, dass er der deutschen Sprache mächtig ist, stellt sich die Frage:

         Warum teilt er die Tugenden so ein?“ oder ganz allgemein gefragt:
         „Warum macht er das?“


Da Lafontaine ein Politiker ist, und Politiker etwas bewirken wollen, stellt sich eine zweite Frage:
         „Was wollte Lafontaine damit bewirken?“
 

Es war wahrscheinlich seine Absicht, die Uneigennützigkeit eines (idealisierten) Sozialismus gegenüber den auf sich selbst bezogen Tugenden des Individuums herauszustellen!

Er verkennt dabei wahrscheinlich die (auch für die Gesellschaft) positiven Aspekte eines „effizienten“ Individuums!


5. Einteilung der Tugenden nach ihrem Bezug

Um solche Ungereimtheiten und Widersprüche zu vermeiden, benötigen wir eine neue Kategorisierung und Einteilung der Tugenden.
Als entscheidendes und alleiniges Kriterium bietet sich zunächst der Bezug an.


Als Frage formuliert: Worauf bezieht sich diese Tugend?

1. Bezieht sich eine Tugend auf eine Sache, wie der sorgfältige Umgang mit Werkzeug und Gerät bei der Reparatur einer Uhr, so will ich von einem Sachbezug sprechen.

2. Bezieht sich eine Tugend auf die eigene Person, wie z.B. der gezeigte Fleiß bei der Anfertigung einer Hausarbeit, so will ich von einer individuellen Tugend sprechen.

3. Bezieht sich eine Tugend auf andere Menschen, wie z.B. Menschen in der Nachbarschaft oder auf Bettler, so will ich von sozialen Tugenden sprechen.


Wenn man dieser neuen Einteilung der Tugenden nach ihren Bezügen folgt, so ergeben sich drei Bereiche für die Tugenden:

Sachbezogene Tugenden, individuelle Tugenden und soziale Tugenden.

Nun wollen wir die bisher genannten Tugenden nach der neuen Überlegung einteilen.

Zu den sachbezogenen Tugenden gehören:

         Sorgfalt,
         Verantwortungsbewusstsein*
         Geduld**

 

Zu den individuellen Tugenden gehören schwerpunktmäßig:

         Fleiß
         Verantwortungsbewusstsein*
         Geduld**
         Sorgfalt *

Zu den sozialen Tugenden gehören:

         Hilfsbereitschaft
         Respekt
         Solidarität
         Geduld**
         Ehrlichkeit
         Rücksichtnahme
         (gutes Benehmen) (Höflichkeit)

         Gerechtigkeit


6. Mängel der neuen Einteilung

Es ist zu erwarten, dass Sie über die Sternchen (*) (**) gestolpert sind.

Also müssen wir uns damit befassen:

Die Tugend des * Verantwortungsbewusstseins hat einen Sachbezug:
Beispiel:
Man sollte mit den knappen Ressourcen der Umwelt verantwortungsbewusst umgehen.

Das * Verantwortungsbewusstsein kann aber auch einen individuellen Bezug haben:
Beispiel:
Man sollte mit seiner Gesundheit oder seinem Geld verantwortungsbewusst umgehen.


Noch ungünstiger sieht es für meine Einteilung der Tugenden mit dem Begriff Geduld **aus.

Geduld kann einen Sachbezug haben: Bedienung von komplizierter Technik

Geduld kann einen individuellen Bezug haben: Verhalten bei langer Krankheit

Geduld kann einen sozialen Bezug haben: Verstehen von fremdartigen Verhaltensweisen

Fazit: Die Tugend der Geduld kann man also allen drei Bereichen der Tugenden zuordnen.

Die Begriffe von Tugend, die mit einem oder zwei Sternchen (*) (**) gekennzeichnet sind, lassen sich nicht eindeutig zu- und unterordnen.
Das sind Tugenden, die zu zwei oder sogar allen drei Bereichen gehören und sich deshalb nicht eindeutig unterordnen lassen.

Wie lösen wir nun dieses Problem?

 

7. Neue Einteilung und Strukturierung der Tugenden

Die Tugenden, die sich nicht eindeutig zuordnen lassen, weil sie so allgemeingültig sind, ordnet man am besten über den 3 bisher genannten Tugenden ein und nennt sie – Helmut Schmidt oder in Anlehnung an den alten Griechen Platon einfach – Kardinaltugenden.

 

Damit haben wir eine neue und wahrscheinlich die endgültige Struktur über die Tugenden.

Kardinaltugenden sind demnach :

         Gerechtigkeit (als Ergebnis von Weisheit, Tapferkeit und Besonnenheit)
         Mäßigkeit,
         Großzügigkeit,
         Geduld
         Klugheit (steckt bereits zum großen Teil in der Tugend der Weisheit)
         und eventuell
        
Verantwortungsbewusstsein.
         Sorgfalt

Die christliche Soziallehre unterscheidet vier Tugenden:
                     Klugheit, Gerechtigkeit, Mäßigung und Tapferkeit!


Wenn man das System nun noch ein wenig verfeinern möchte, kann man auch hier einen - allerdings nur einen
allgemeinen - Bezug angeben. Hier bietet sich (ebenfalls drei) allgemeine Bezüge an:
                    
das Verhalten des Menschen,
                    
seine geistigen Fähigkeiten und
                    
seine psychischen Fähigkeiten.




                                 Kardinaltugenden

                                 (in Anlehnung an Platon)

allgemeiner Bezug

1. Verhalten:                                   Geduld und Ausdauer, Mut und Tapferkeit sowie Zielstrebigkeit und Besonnenheit

2. geistige Fähigkeiten:                 Klugheit, Weisheit, Verantwortungsbewusstsein

3.
psychische Fähigkeiten:            Belastbarkeit, Stressresistenz,


   sachbezogene Tugenden   individuelle Tugenden  soziale Tugenden
 
         Sorgfalt                                  Fleiß                                       Hilfsbereitschaft
         Genauigkeit                           Disziplin                                 Nächstenliebe
         Formalismus                         Respekt
         Aufmerksamkeit                                                                  Treue
         Konzentration                                                                       Toleranz
                                                                                                       Solidarität
                                                                                                       (gutes Betragen)
                                                                                                       Rücksichtnahme